Elly H. aus Schmölln war 1940 eine glücklich verheiratete Frau und Mutter von 3 Kindern. Sie arbeitete mit anderen Frauen in der Dampfziegelei „Mehlhorn & Sohn“. In jenem Jahr kamen mehrere polnische Zwangsarbeiter in die Firma. Sie leisteten schwere Arbeit und schliefen notdürftig auf dem Dachboden der Fabrik, auf den sie über eine Leiter kletterten. Die drei Männer waren unterernährt und wurden immer schwächer. Frau H. beobachtete das mit eigentlich ganz normaler menschlicher Anteilnahme und erzählte zu Hause ihrem Mann davon.
Das Ehepaar beschloss, den Männern regelmäßig etwas zu Essen zu bringen. Um kein Risiko einzugehen, fragte der Ehemann sogar bei der Polizei, ob das erlaubt sei. Er erhielt lediglich die Auskunft, es sei seine Sache, wenn er den Polacken was zu fressen geben wolle. Also nahm Elly H. Suppe mit in die Fabrik und füllte sie den Zwangsarbeitern in die Konservendosen, aus denen diese ihre Mahlzeiten einnahmen. Zwei andere Frauen taten es ihr gleich. Schon nach kurzer Zeit wurde sie dabei beobachtet. Die Polizei warnte sie, mit der Versorgung fortzufahren; die Nachbarn raunten, sie möge sich in Acht nehmen. Auch Herr H. bekam es mit der Angst zu tun, hielt aber zu seiner Frau. Sie schickten jetzt ihre kleine Tochter mit der Suppe die Leiter hoch und hofften, dass das Kind niemandem auffallen würde.
Am 18. November 1940 wurden 3 Frauen verhaftet, darunter Frau H. Eine der Frauen war hochschwanger. Sie wurden ins Zuchthaus nach Gera gebracht. Anfangs dachten sie noch, dass sie nach dem Verhör wieder gehen könnten. Beim Verhör durch die Gestapo erfuhr Frau H., dass sie nicht der Essenslieferung, sondern des Ehebruchs mit den polnischen Männern beschuldigt wurden. Frau H. wurde vorgeworfen, sie hätte sich in jeder freien Minute mit den Männern zu Hause, im Feld und auf dem Friedhof vergnügt. Nach langen physischen Quälereien unterschrieb sie ein Schuldeingeständnis.
Am 11. Dezember 1940 lief ein Mann mit einer Glocke durch die Straßen Schmöllns. Er sprach von Schmutz und Verrat und dass es gleich auf dem Markt etwas zu sehen geben würde. Den 3 Frauen waren Schilder umgehängt worden mit der Aufschrift „Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen“. Sie wurden durch die Straßen geführt, vorbei an ihren ehemaligen Wohnungen. Auf dem Weg zum Markt wurden sie bespuckt, mit Steinen beworfen und als „Huren“, „Sauweiber“ und Verräter“ beschimpft. Ihre Kinder waren zuvor unter einem Vorwand aus der Stadt gebracht worden, damit sie von dem grausigen Schauspiel nichts mitbekamen.
Auf dem Markt war ein hölzernes Podest errichtet. Drum herum warteten schon viele Menschen auf das Schauspiel, ganz vorn standen die Kinder. Auf der Rathaustreppe standen dicht gedrängt die Schaulustigen, alle Fenster zum Markt waren dicht besetzt, und ein paar Halbwüchsige waren sogar die Laternenpfähle hochgeklettert. Die Menge zeigte sich empört über das angebliche Verbrechen der Frauen. Bei einigen wenigen galt die Empörung jedoch der Strafe. Frau H. sah eine Frau, die sich abwandte und ging. Ein Mann rief, sie solle ihren Kopf stolz heben und nicht senken. Auf den Bildern ist zu sehen, dass eine der Frauen während der Prozedur die Hände vors Gesicht schlägt. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter Oder hielt mit Lautsprecher eine demagogische Rede, in der er die Frauen als ehrvergessen und würdelos beschimpfte und schließlich den „Ausschluss aus der Volksgemeinschaft“ verkündete. Sein selbstgerechter Blick auf den Fotos ist noch heute schwer erträglich. Das Scheren selbst musste von den Lehrlingen der hiesigen Friseure ausgeführt werden. Einer dieser Männer lebte bis vor wenigen Jahren noch in Schmölln und erzählte manchmal von den Ereignissen. Zuerst wurden die langen Haare mit der Schere abgeschnitten und dann die Köpfe kahl geschoren.
Nach diesem grausigen Spektakel wurde den Kindern erzählt, ihre Mutter sei gestorben. Deshalb kamen sie in ein Kinderheim. Die Ehe der Eheleute H. wurde annulliert. Herr H. heiratete später wieder, um seine Kinder aus dem Kinderheim zu holen und ihnen eine Stiefmutter zu geben. Die schwangere geschorene Frau gebar in Gera im Zuchthaus ihr Kind, das ihr sofort weggenommen wurde. Alle 3 Frauen kamen ins KZ nach Ravensbrück. Die polnischen Männer wurden im KZ Buchenwald hingerichtet.
In der Schmöllner Ziegelei wurden bis 1945 sehr viele Zwangsarbeiter untergebracht, die für Kriegszwecke arbeiten mussten. Nach den geschilderten Ereignissen von 1940 wird es niemand mehr gewagt haben, sie zu unterstützen.
Frau H. überlebte 5 schreckliche Jahre im KZ Ravensbrück. Sofort nach ihrer Befreiung 1945 kehrte sie zurück nach Schmölln. Sie wollte den Leuten in die Augen sehen, die sie angespuckt hatten. Sie wollte sie zur Rede stellen und fragen, wie sie zu so etwas im Stande sein konnten. Herr H. hatte immer darauf gehofft, dass seine Frau wiederkommen würde. Er hatte Papiere vorbereitet, die ihr Recht als Mutter bestätigten. Er selbst starb 1945 in einem Lazarett. Frau H. sah ihren Mann also nie wieder. Die Kinder lebten derweil bei der Stiefmutter. Als Frau H. wieder vor ihnen stand, erkannten die Kinder ihre Mutter nicht. Es dauerte lange, bis die Kinder verstanden, dass die totgeglaubte Mutter vor ihnen stand. Frau H. schaffte es, das Sorgerecht für ihre Kinder zurück zu bekommen. Sei baute sich in Schmölln wieder ein Leben auf und arbeitete sogar wieder in der Ziegelei. Und sie stellte den Leuten die Frage, wie sie im Stande gewesen waren, ihr so etwas anzutun. Doch sie erhielt keine Erklärungen, nur Ausreden: „Es war nicht so gemeint“, „Die anderen haben es doch auch gemacht“, „Hätte ich es anders gemacht, wäre ich dran gewesen“. Wie Frau H. wohl mit solch unreflektierten Ausflüchten ihrer Mitbürger umgehen konnte?
2012 recherchierte eine Schülerin des Schmöllner Gymnasiums mit großem persönlichen Engagement die Ereignisse und machte sie vor dem Stadtrat publik. Die Stadt Schmölln nahm sich geschichtsbewusst des Themas an. Sie ließ im Rahmen einer Gedenkveranstaltung eine Gedenkplatte vor dem Brunnen auf dem Schmöllner Markt am Ort des damaligen Geschehens anbringen. Es kann nicht oft genug an diese unmenschlichen Ereignisse und das Stillschweigen der Schmöllner Bürger dazu erinnert werden.
Dorit Bieber
Fotos: Sammlung Ortschronik Löbichau